Die Lage der EU Rainer Wieland, Vizepräsident des Europäischen Parlamentes über die Rede der Kommissionspräsidentin zur Lage der Union, Europas und Deutschlands Rolle in der Welt und die Wichtigkeit einer neuen und strategisch ausgerichteten Entwicklungspolitik

Rainer Wieland, MdEP, seit 2009 Vizepräsident des Europäischen Parlaments im Gespräch mit Helga Ruhnke über die Auswirkungen der Corona-Krise, die auch gezeigt hat wie fragil - trotz aller Hochtechnologisierung - die Welt von heute ist.

Frau Helga Vorsitzende der UdVF Nord-Württemberg führte durch die Veranstaltung und bat Rainer Wieland um seine Meinung zu unterschiedlichen Themen:

Herr Wieland, wie beurteilen Sie die Rede der EU-Kommissionspräsidentin. zur Lage der Union?
Ich unterstütze Von der Leyens angekündigte einschneidende Reformen im Bereich von Digitalisierung, Gesundheitsschutz, Migration und Bekämpfung der Corona- Pandemie. Ihre Ankündigung, das CO2-Reduktionsziel bis 2030 von bisher 40 auf mindestens 55 Prozent zu erhöhen, halte ich allerdings für sehr - wenn nicht allzu - ehrgeizig. Es kommt nun auf seriöse und ordnungspolitisch zielführende Ansätze in der Umsetzung, wiebeispielsweise mit dem Emissionshandel. Vor allem ist es wichtig, betroffenen Industriearbeitnehmern und mittelständischen Betrieben die Existenzängste zu nehmen und den Industriestandort Europa zu erhalten.

Wie geht Automobilindustrie und wie wird es mit Nord Stream weiter gehen?
Die Automobilindustrie steuert aktuell aus verschiedenen Gründen durch schwere See. Viele Arbeitsplätze sind bedroht. Ich bin der Überzeugung, dass wir die nötigen Innovationen nicht durch Denkverbote im Blick auf mögliche Technologien erreichen. Die Stärke dieses Kontinents und Deutschlands war es immer, Ziele zu formulieren und ihre Erreichung auf mehreren Wegen voranzutreiben. Deshalb steht die CDU weiterhin für Technologieoffenheit und faktenbasierte Politik statt politisch basierter Fakten. Mit anderen Worten: Kompetenzen bei der Optimierung bestehender Technologien erhalten und in der Spitze bei der Entwicklung neuer Technologien bleiben. Nur so können wir den Wohlstand des Kontinents sichern und die Mittel erwirtschaften, die eine ambitionierte Klimapolitik benötigt.
Auch das schaffen wir nur gemeinsam. Und je schneller sich alle - Parteien und Partner in Europa - darüber bewusst werden, desto besser. Denn wir leben in einer Welt, in der nicht mehr die Großen die Kleinen fressen, sondern die Schnellen die Langsamen. Nokia ist ein Menetekel!
Die Frage nach Nord Stream 2 ist schwierig. Sowohl die CDU, als auch die CSU, waren im EU- Parlament zu Nord Stream 2 gespalten. Das Ergebnis der Abstimmung lag fast bei 50/50 Stimmen. Dies zeigen auch die widerstreitenden Argumente. Einerseits dürfen wir Putin nicht gewähren lassen, andererseits ist es wichtig, dass wir nicht nur von einem Lieferanten abhängig sind und unsere osteuropäischen Partner befürchten, dass sie kaltgestellt werden können. Sie sind deshalb praktisch geschlossen gegen Nord Stream 2. Ich selbst habe nach Abwägung aller Umstände gegen Nord Stream 2 gestimmt.

Welche Auswirkungen hat Moria auf Europa?
Nicht nur Deutschland, sondern auch die EU stehen massiv unter Druck. Es geht hier nicht um die Anzahl von 1.500 Menschen. Aber wir müssen aufpassen. Moria darf kein Geschäftsmodell werden. Wenn weitere Lager brennen, haben wir uns moralisch schuldig gemacht.
Wir müssen im Vorfeld die Botschaft schicken: Das lohnt sich nicht. Dafür müssen wir aber alles besser organisieren und alle mitnehmen. Kurzfristig heißt es helfen und verteilen, mittelfristig müssen Lager gebaut werden und langfristig muss Stabilität exportiert werden, wenn wir nicht Instabilität importieren wollen. Um einer solchen Lösung endlich näher zu kommen, müssen alle Mitgliedsstaaten ihren Beitrag leisten - auch Deutschland.
Die Bedeutung der Entwicklungspolitik muss in der Zukunft noch deutlicher hervorgehoben werden. Bisher haben wir jedoch in der Entwicklungshilfe nicht nur im Gießkannenprinzip Gelder verteilt, sondern jedes Land nach eigenen Schwerpunkten. Dies muss zielgerichteter werden und auch großzügiger als bisher. Wir brauchen eine langfristige, engagierte Zusammenarbeit, die strategisch ausgerichtet ist und Transformationsprozesse unterstützt. Dabei müssen wir vor allem möglichst korruptionsfreie Ansätze unterstützen. An einer guten Entwicklungspolitik, die auch etwas kosten wird, führt jedenfalls kein Weg vorbei.

Wäre eine EU-weite Regelung zur Einreise wie in Kanada nicht zielführender?
Kanada ist ein Staat, die EU nicht. Dennoch braucht die EU für wichtige Politikfelder mehr und bessere Kompetenzen. Die Frage ist deshalb nicht, wie wir eine Migrationspolitik gestalten, sondern, ob wir dies gemeinsam gestalten wollen und können.
Diese Frage ist dringlicher denn je! Und wir können sie nicht mehr mit Einstimmigkeit beantworten. Gleichzeitig sollten wir uns bewusst sein, dass mancher Akteur in Europa noch sehr genau weiß, dass es nicht allzu lange her ist, seit sich ausgerechnet Deutschland noch gegen Mehrheitsentscheidungen bei dieser Thematik gestemmt hat.

Sind Schulden für Europa gerechtfertigt?
Um die Folgen von Corona vorallem im Blick auf die besonders betroffenen Länder gemeinsam zu mildern, wird die EU einen Betrag von 750 Mrd € aufbringen. Das ist ein kaum vorstellbarer Betrag. Dennoch sollten wir mit nüchternem Blick festhalten: ca. 750 Mrd für eine Bevölkerung von 450 Millionen Menschen stehen bundesrepublikanischen Hilfen von 218,5 Mrd für 83 Mio Einwohner gegenüber. Natürlich dürfen in Europa Haftung und Verantwortung nicht dauerhaft auseinanderfallen. Und natürlich darf europäische Solidarität in einigen Ländern nicht als „Frisches Geld für alte Probleme“ missverstanden werden, sondern vielmehr als Hilfe auf dem Weg zu mehr Solidarität.
Im Übrigen ist die ganze Aktion gerade im Blick auf unser Land keine völlig altruistische Veranstaltung: auch wenn durch unsere deutschen Anstrengungen unsere eigene Wirtschaft wieder auf die Beine kommt – und vielleicht sogar erneut stärker aus einer Krise herauskommen kann, als sie in sie hineingegangen ist -, so wird das alles Makulatur bleiben, wenn unsere Kundschaft auf dem ganzen Kontinent die Folgen der Krise nicht überlebt. Wir müssen zusammenhalten, wenn die Handelsnationen ihre Perspektiven erhalten wollen!

Bericht verfasst von Manuela Raichle

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